Auf der Leipziger Buchmesse hatten wir einen neuen, sehr netten Standnachbarn, den Erlanger Homunculus Verlag, der einige vielversprechende Bücher zu bieten hat ("Seefahren macht besser" oder Klassiker wie Heinrich Spoerl, Carl Einstein, ETA Hoffmann).
Unser Autor Alexander Diener entdeckte hier
Nazis auf der Suche nach dem Ur-Arier
Wie wäre es mit einem Roman, dessen Handlung damit einsetzt, dass drei Nazis im Jahr 1939, am Vorabend des Krieges, über Island zum Landeanflug ansetzen (nicht ohne trashige Kotz-Szene) und der Erzähler den Himmel mit der Innenseite der Hirnschale eines Riesen aus der nordischen Mythologie vergleicht? Mit dieser Szene beginnt der Roman Ymir oder Aus Hirnschale der Himmel, das Debut des 1988 in Amsberg geborenen Philip Krömer.
Genauer gesagt sind es wohl nur zwei Nazis: Der SS-Mann KleinHeinrich, dem großen Heinrich unterstellt, sowie ein lediglich VonUndZu genannter Dandy, der Mitglied der NSDAP ist und ein Koffergrammophon samt Wagner-Platten mit sich herumschleppt. Der Erzähler selbst heißt Karl und scheint trotz seiner ununterbrochenen Bereitschaft, überall Spuren nordischer Sagengestalten zu erblicken, unpolitisch wie ein 1988 Geborener. Als unbekannter Schreiberling wurde er vom großen Heinrich für die strenggeheime Entdeckungsmission engagiert, denn man braucht einen „Erzähler, der nachher alles zu Literatur macht“. Denn Epochales scheint vor sich zu gehen unter der Erde Islands: Beim Bau eines Schutzbunkers stößt die Bohrmannschaft aus Norwegen auf ein Loch, das in ein unbekanntes Höhlensystem führt. Unsere drei Helden begeben sich auf eine wahnwitzige und kaum nacherzählbare Entdeckungsreise, inklusive Gruselszenen, überraschender Romantik und einem kein bisschen filmreifem Showdown. Finden sie das sagenumwobene Land Agartha und Spuren eines mythischen, arischen Urmenschen im Erdinneren?
Die Beschreibungskunst des Autors sprüht vor trockenem Humor. Die Helden erreichen den Bunker, Einführung einer Nebenfigur: „Zuerst tritt uns aus der Luke allerdings eine vorgehaltene Waffe entgegen, dahinter ein Uniformierter von durchschnittlicher Körpergröße, mit glatten Zügen, die Uniform sitzt und allein der wilhelminisch ausladende Schnurrbart macht ihn durch alle militärischen Gleichschaltungsinstanzen hindurch zum Individuum. Ich will ihn darum Schnurri nennen.“
Solche Sätze finden sich auf nahezu jeder Seite von Ymir. Fröhlich spielt – oder besser gesagt: jongliert – Krömer mit Anspielungen auf Zeitgeschichte, Gegenwart, Poetologie, die phantastische Literaturgeschichte von Wells bis Carroll, mit erzählerischer Selbstironie, mit Kalauern, Trash und Ernsthaftigkeit, mit seiner spürbaren Freude am Formulieren und führt auf diese Weise seine Helden ihrem verdienten Ende entgegen.// Alexander Diener
Krömer, Philip : Ymir .
Oder: Aus der Hirnschale der Himmel . 2016 . 216 S. Mit 41 schwarz-weißen Abbildungen.
978-3-946120-18-6
- homunculus verlag -
GEB 19.90 EUR
“Der falsche Deutsche” ist der dritte Roman des Leipziger Autors Thomas Podhostnik. Man kann ihn durchaus als Fortsetzung seiner ersten beiden Bücher lesen. Das Kind slowenischer Gastarbeiter, dem man im “Gezeichneten Hund” erstmals begegnet, ist jetzt ein junger Mann, der aus dem ungeliebten Deutschland nach Kuba geflohen ist. Im Reisegepäck Thomas Manns Zauberberg. Aber das Land, in dem “der Blonde” aufgewachsen ist, verfolgt ihn unerbittlich bis auf die ferne Karibikinsel. Denn hier wird er mit einem ebenso idealistischen wie antiquierten Deutschlandbild konfrontiert, das kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, die er kennt.
Die Freundschaft
zu dem jungen Kubaner Yanez und das Scheitern dieser Freundschaft spiegelt auch die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit eines Landes, in dem Podhostniks Alter Ego keine Heimat gefunden hat
auf drastische Weise. /J.J.
Roman, 152 Seiten Hardcover
ISBN 978-3-902844-60-6
€ 17.40 [D]
mehr zu Thomas Podhostnik
Sehr geehrte Damen und Herren,
Zum Buch:
Saisonkraft bei Amazon. Ausgerechnet. Für die Autorin und Übersetzerin in Geldnot ist es ein Moment der Misere, für alle anderen ein literarischer Glücksfall. Denn was in den Wochen vor Weihnachten entsteht, ist vieles zugleich: Ein Erfahrungsbericht, der ebenso persönlich wie politisch ist. Kritik an den Verhältnissen mit den Mitteln der Selbstironie. Der Blick in eine Halle, die von der Außenwelt abgeschottet ist und gerade deshalb viel über sie verrät.
In Saisonarbeit geht es um Empfindlichkeit und das Politische des Empfindlichen. Es geht um das Buch als Fluchtort in einem Warenlager, in dem der Unterschied zwischen Buch und Badeente keine Rolle spielt. Und es geht um die Arbeit bei Amazon und darum, dass „mit dieser Arbeit und vielen Sorten Arbeit grundsätzlich etwas faul ist“. /// Erschienen in der Reihe Volte / Hrsg. Jörn Dege & Mathias Zeiske / Spector Books Leipzig
ISBN 978-3-944669-66-3 / 270 Seiten, 14 Euro
In den Kurzgeschichten des 1988 verstorbenen US-Amerikaners Raymond Carver besteht der Kunstgriff darin, den Schwerpunkt der Geschichte auszusparen beziehungsweise aus der Handlung hinaus zu verlagern. Die Katastrophe, der dramatische Höhepunkt hat entweder bereits stattgefunden, oder steht noch bevor. Ähnlich geht Haruki Murakami (der Carver ins Japanische übersetzte) in vielen seiner Erzählungen vor; in aktuellen deutschen Kurzgeschichten nehmen beispielsweise Clemens Meyer (Die Nacht, die Lichter) oder Finn-Ole Heinrich (Die Taschen voll Wasser) diese Erzähltechnik auf.
Das Debüt des 1980 in Stuttgart geborenen Florian Wacker enthält 14 Erzählungen, die sich über acht bis fünfzehn Seiten erstrecken und Ausschnitte aus den Leben von Busfahrern, Malern, Straßenarbeitern usw. zeigen. Während Finn-Ole Heinrich sich häufig mit wahnhaften Charakteren beschäftigt und Clemens Meyers Geschichten von gebrochenen und kämpfenden Gestalten in der Stadt eine gewisse Romantik an den Tag legen, beschäftigt Florian Wacker sich vor allem mit Menschen, die halbwegs gesichert im Leben stehen, die vielleicht nicht mittelmäßig sind, aber sich (ausgesprochen oder nicht) als mittelmäßig sehen und gesehen werden. Doch der Reiz der Erzählungen besteht nicht in den Berufstätigkeiten der Protagonisten, sondern vielmehr in der Atmosphäre der Orte, an die Wacker sie schickt:
In Feierabend beispielsweise folgt Schopp zwei Füchsen ins düstere Dickicht und gelangt in ein Dorf, in dem sein eigenes Leben weit entfernt und kaum noch bedeutsam erscheint. In Terrakotta erhalten Kolb und Alex den Auftrag, die Wände einer perfekten und vollkommen menschenleeren Modellstadt zu malern. Der kulissenhafte, gespenstische Ort bewirkt eine kaum greifbare Veränderung sowohl beim Malermeister als auch bei seinem talentierten Lehrling. Dass sich etwas verändert wird, liegt unausgesprochen und dennoch überdeutlich in der Luft. Der Leser erfährt nicht, was Schopp oder sein Erzähler denken, während sie am Fenster stehen und in das eigenartige Dorf hinab schauen; wir wissen nicht wirklich, was in Kolb vorgeht, während er durch die Geisterstadt fährt. (Nur dass er nervös ist, erfahren wir, als er glaubt von einem anderen Fahrer, der sich als Alex‘ Freundin entpuppt, verfolgt zu werden.) Es ist Teil dieser Atmosphäre, dass sie ungebrochen bleibt von Wertungen und Kommentaren. Wacker beherrscht dieses Vorgehen so glänzend, dass man sich wünscht, er würde, zumindest in der einen oder anderen Geschichte, auf seine mühsam erarbeitete Schlichtheit verzichten und etwas „Spektakuläres“ zeigen, doch das ist nicht sein Anliegen.
Neben dieser atmosphärischen Könnerschaft zeichnet Wackers Erzählungen noch ein weiteres Merkmal aus: Er präsentiert uns seine Gestalten, die ein sogenanntes einfaches Leben führen, weder als gebrochene oder moralisch verkommene Subjekte, noch verklärt er sie zu Arbeiterhelden. Keine Geschichte verfällt in den Voyeurismus oder in Trostlosigkeit. Stattdessen zeigt er uns schlichte, aber stolze Gemüter, die ihr Glück und Unglück mit Haltung ertragen.
Florian Wacker: Albuquerque
Erzählungen
Leineneinband
160 Seiten | 16,90 €
ISBN 978-3-938539-32-3
In Nabokovs Roman Pnin über einen in die USA ausgewanderten russischen Gelehrten, macht sich der Erzähler über den Protagonisten lustig und der Leser lacht mit ihm. Doch von Kapitel zu Kapitel gewinnt Timofey Pnin an Profil und zieht den Leser auf seine Seite, ohne dass der Erzähler etwas dagegen ausrichten kann. Eine vergleichbare Verschiebung findet in Robert Louis Stevensons Roman Der Master von Ballantrae (in früheren Übersetzungen auch Der Junker von Ballantrae) aus dem Jahr 1889 statt. Stevenson ist vor allem für den Piratenroman Die Schatzinsel und die vielfach verfilmte Erzählung Dr. Jekyll und Mr. Hyde bekannt. Der Master von Ballantrae ist eines seiner weniger bekannten Bücher, das nun in neuer Übersetzung und liebevoller Gestaltung vorliegt. Der Roman erzählt die Geschichte zweier Brüder, Henry und James Durie, die Erben des alten Lord Durrisdeer. James muss in den Krieg ziehen und fällt. Henry hat die Last des Überlebenden zu tragen und sieht sich gezwungen, James’ Verlobte, die den Verstorbenen nach wie vor verehrt, zu ehelichen und ein Kind mit ihr zu zeugen. In dieser unkomfortablen Situation richten sich die Bewohner des Schlosses Ballantrae ein, als sie die Nachricht erhalten, dass James am Leben ist. In der Folge stellt der Todgeglaubte das Leben seines Vaters, seines Bruders und dessen Ehefrau auf den Kopf, indem er skrupellos die Liebe des Vaters und der Frau und das Pflichtgefühl des Bruders ausnutzt und das schmelzende Vermögen der Familie verschleudert.
Auf den ersten Blick erscheint also eindeutig, wer in dieser Mischung aus Abenteuerroman und Adeligendrama die Rolle des Guten und des Bösen gibt. Wie viele Erzählungen Stevensons lässt sich der Text auf dieser oberflächlichen Ebene genießen und als unterhaltsamer Roman lesen. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto stärker zweifelt der Leser an den Wertungen, die der Erzähler trifft. Dieser Erzähler heißt Ephraim Mackellar und steht als Verwalter des Guts Durrisdeer auf der Seite Henrys. Erscheint seine Abneigung gegen den Bruder James in der ersten Hälfte durch die Handlung gerechtfertigt, kippt dieser Eindruck – wie in Nabokovs Pnin – je mehr Zeit der Leser mit den Charakteren verbringt. Bei einem Duell tötet Henry James scheinbar erneut; während der späteren Schiffsreise versucht Mackellar, James über die Reling in die stürmische See zu stürzen, doch der Junker erscheint unsterblich. Die Handlungen James’ tragen ihm nach wie vor keine Zuneigung ein; vielmehr gelingt es ihm, dass seine Feinde Henry und Mackellar noch verworfener handeln als er selbst – nicht umsonst sagte Stevenson über seinen Antihelden James Durie: „Er ist alles, was ich vom Teufel weiß.“
Der Roman bietet dem
Leser mindestens drei Lesarten: Erstens die abenteuerliche Geschichte James Duries auf seinen Reisen (bei denen er neben anderem einen Schatz anhäuft, den es am Ende zu suchen gilt). Zweitens die
Geschichte eines von Hass und Eifersucht geprägten Bruderzwistes, der sich unaufhörlich steigert. Und drittens die Geschichte des redlichen Henry der sich vom Teufel in Gestalt seines Bruders zu
einer schmerzhaften Bösartigkeit zermürben lässt. Diese Lesarten – und das ist vielleicht Stevensons größte Kunst – wirken nicht nebeneinander gestellt, sondern scheinen einander zu bedingen.
A.D.
Der Mare Verlag bringt
Der Master von Ballantrae in neuer Übersetzung mit ausführlichen Anmerkungen in einem schmuckvollen
Leinenband.
Robert Louis Stevenson:
Der Master von Ballantrae. Eine Wintergeschichte, Herausgegeben und übersetzt von Melanie Walz, 352
Seiten, 978-3-86648-120-6, 29,90
Euro
Es gibt Romane, von denen weniger die Handlung oder die Charaktere in Erinnerung bleiben, als die Orte, die sie erschaffen. Beispiele für solche Orte sind das orientalische London aus Stevensons New Arabian Nights oder das magische und unheimliche Prag zu Beginn des letzten Jahrhunderts, das in Gustav Meyrinks Der Golem und Leo Perutz‘ Nachts unter der steinernen Brücke erkundet wird.
In seinem Roman Der Trafikant lässt Robert Seethaler den 17-jährigen Franz Huchel Heimatdorf und Mutter verlassen, um im Wien des Jahres 1937 sein Glück als Trafikanten-Lehrling zu suchen. Bei seiner Arbeit und seinen Abenteuern in der Stadt erfährt Franz, dass nur Zeitungsleser wirkliche Menschen sind; dass man kein Raucher sein muss, um Zigarrenkenner zu sein; dass die Liebe ein Albtraum sein kann; dass auch ein Professor namens Sigmund Freud für die Damenwelt keine Erklärung findet; und dass sein mangelndes Interesse an der bedrohlichen Weltpolitik nicht dazu führt, dass die Weltpolitik vor seiner Tür Halt macht. Ohne zu viel zu verraten kann man sagen, dass Franz sich am Ende zu einem traurig-schönen politischen Protest hinreißen lässt.
Historische Romane genießen nicht den besten Ruf; Seethaler zeigt, dass es anders geht: Die Gespräche zwischen dem gewitzten Dorfjungen und dem alten Professor sind pointiert und spannend, ebenso der Postkartenaustausch mit der Mutter in der Heimat. Die Liebesgeschichte zwischen Franz und Anezka, einer böhmischen Varietékünstlerin mit Zahnlücke, umschifft jede Sentimentalität. Die Figur des kriegsversehrten Trafikanten, der Franz aufnimmt, hätte bemitleidenswert geraten können, strahlt dazu jedoch zu viel Stolz aus.
Doch was am stärksten von diesem Buch in Erinnerung bleiben dürfte, ist seine Kulisse: Abenteuerlich und verworren sind die Pfade, auf die Franz bei der Suche nach Anezka im abendlichen Wien gerät und die der tragischen Geschichte einen magischen Hauch verleihen. Der Trafikant ist ein kurzer Roman, der mit einer Reihe erinnerungswürdiger Charaktere bekannt macht und nebenbei einen Ort erfindet, an den der Leser gerne zurückkehren wird. – A.D.
Robert Seethaler: Der Trafikant (Taschenbuch)
Kein und Aber Verlag
978-3-0369-5909-2
9,90 Euro
Robert Seethaler lesen ist wie Kakao-mit-
Schlagsahne-Trinken und Trüffel-Quark-Sahne-Torte-Essen beim Café Kandler im Specks Hof.
1949 veröffentliche Jorge Luis Borges die Erzählung Das Aleph, in der der Erzähler im Keller der verblichenen Angebeteten eine Art Knotenpunkt findet, von welchem aus er jeden Punkt des
Universums aus jeder möglichen Perspektive erblickt. Was bei Borges ein phantastischer Traum ist, scheint in Dave Eggers’ Roman Der Circle beinahe realistisch, dank eines
unerschöpflichen technischen Fortschritts und der Vision, jedes Geschehen und jede Handlung erfassbar und messbar zu machen.
Der Plot ist banal und nebensächlich: Die junge Mae Holland erlangt mit ein wenig Unterstützung einer Freundin einen der begehrten Arbeitsplätze beim Circle - einem gigantischen
Unternehmen auf einem nicht minder gigantischen Campus, das sämtliche Internet-Dienste in einem Programm zusammenfasst und nun Finanzströme, Informationszugang und letztlich auch politische
Wahlen kontrolliert. Es gibt einen skrupellosen Finanzhai, einen geheimniskrämerischen Liebhaber, der nicht ist, wer vorgibt zu sein, und leidenschaftlichen Koitus auf sauberen Toiletten.
Doch der Roman zieht seine Spannung nicht aus dem Schicksal der Charaktere, die trotz hoher universitärer Abschlüsse nie aus ihrer Naivität herausfinden, mit Ausnahme der Eltern Maes, die
zwischen Stolz auf ihre Tochter und Skepsis gegenüber der vom Circle angestrebten “Vollendung” - der absoluten Transparenz - schwanken. Den Leser fesselt das eigene Unbehagen: Eggers
erweckt den Eindruck, dass der Circle keine ferne Dystopie ist, sondern greifbar nah. Wo liegt die Grenze zwischen Transparenz und Überwachung? Eggers denkt Entwicklungstendenzen des digitalen
Zeitalters zu Ende (wenn auch unter der vereinfachenden Maxime, dass jeglicher Widerstand entweder nicht existiert oder ungehört bleibt) und entwirft eine Hölle, in der Maes Ex-Freund sein Heil
in der Zivilisationsflucht sucht und mittels Kameradrohnen bis an den Abgrund gejagt wird. “Wir wollen deine Freunde sein”, ruft Mae durch einen Lautsprecher an der Drohne und dreht versehentlich
die Lautstärke hoch - die Assoziation eines aus den Wolken dröhnenden Gottes ist überdeutlich.
Die Verfolgungsszene ist eine der erinnerungswürdigsten, die der Roman bietet. Überhaupt sind die stärksten Szenen die, in denen der Autor auf die Pauke haut. Wenn die Anführer des Unternehmens
vor versammelter Belegschaft weitere Schritte auf dem Weg zur "Vollendung" ankündigen und Begeisterungsstürme ernten. Oder wenn eine Politikerin entscheidet, künftig sowohl privat als auch im Amt
transparent, sprich vollzeitüberwacht, zu agieren und damit Druck auf alle übrigen Politiker ausübt - denn was haben sie zu verbergen? Oder wenn Chips erfunden werden, um sie Kindern unter
die Haut zu pflanzen und den Nachwuchs zur eigenen Sicherheit zu überwachen. Furchteinflößend erscheint auch die perfide Art, auf die der Circle die vielbeschworene Auflösung zwischen Arbeit und
Freizeit auf die Spitze treibt: Die Angestellten leben in einer vermeintlich intellektuellen, kreativen Wonneblase mit Biocafeteria, Tennisplätzen, Singer/Songwriter-Wettbewerben und allem, was
das hippe Herz begehrt.
Auf der anderen Seite sind da die stillen, menschlichen Szenen, die blass bleiben. Sowohl Maes Rückzüge in die Einsamkeit einer Kanutour als auch ihre Gespräche mit ihrem Exfreund, ihrer Freundin
und Rivalin und ihren Eltern wirken blass und ideenlos. Nichts lenkt ab von dem Zukunftsszenario, das Eggers entwirft. Am Ende des Romans bleibt der Leser in der Furcht zurück, dass wir sehenden
Auges eine digitale Höllengesellschaft errichten, während ihn das weitere Schicksal der Charaktere kaum kümmert. -- A.D.
Bei uns im Speck's Hof finden Sie sowohl das englische Original als auch die deutsche Übersetzung von Ulrike Wasel:
Dave Eggers: Der Circle (Gebundene Ausgabe)
übersetzt von Ulrike Wasel
Kiepenheuer & Witsch
978-3462046755
22,99 Euro
Dave Eggers: The Circle (Paperback)
Penguin Books
978-0-241-97037-9
10,00 Euro
Am 15. Juni 1767 erhebt sich der zwölfjährige Cosimo Piovasco di Rondo von der Tafel, klettert auf eine Steineiche und beschließt, sein Leben auf den Bäumen zu verbringen. Äußerer Anlass ist seine Weigerung, zur Vor- und Hauptspeise Schnecken zu essen, denen er zuvor zur Flucht verhelfen wollte. „Niemals hatte man ärgeren Ungehorsam erlebt.“ Was aussieht wie der sture Eigensinn eines Jungen, enthält tiefere Ursachen: Es ist die Zeit der Aufklärung, doch Cosimos Vater, der Baron di Rondo, hält stoisch an seinen Privilegien fest. Alle Hoffnungen auf eine Rückkehr des verlorenen Sohnes bleiben unerhört. Cosimo richtet für ein spartanisches Leben in den Gipfeln der weitläufigen Wälder Ombrosas ein und betritt nie wieder den Erdboden.
Aus dieser Grundsituation entfaltet Italo Calvino (1923 – 1985) ein tiefgründiges Erwachsenenmärchen, das Züge eines Abenteuerromans enthält. Cosimo erlegt eine Wildkatze, schließt Freundschaft mit obstklauenden Strolchen und besorgt Büchernachschub für den lesesüchtigen Raubmörder Gian dei Brughi. Er wächst heran und altert, beobachtet von oben das vertrocknete Adeligenleben seiner Familie, wird Mitglied einer Freimauerloge, sucht nach seiner Jugendliebe, führt Korrespondenzen mit den geistigen Koryphäen der Zeit, erarbeitet einen Entwurf einer Verfassung für ein republikanisches Staatswesen mit Erklärung der Menschenrechte, der Rechte der Frauen, der Kinder, der Haustiere und der wilden Tiere einschließlich der Vögel, Fische und Insekten sowie der Bäume, Gemüse und Gräser und hält ein Pläuschen mit einem Feldherren namens Napoleon Bonaparte.
In der Art, einem historischen Schauplatz skurrile Gestalten zuzuschreiben, erinnert der Roman an Kehlmanns Die Vermessung der Welt; in dem Durchdenken der logischen Folgen einer absurden Situation an die Romane des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago; doch Calvino übertrifft beide bei der Erfindung poetischer Details: Gleich zu Beginn, noch zwölfjährig, spiest der junge Baron mit seinem Kinderdegen eine Wildkatze auf, doch statt über sein erstes Jagdopfer zu jubeln, presst er sich an den Baumstamm und den Kadaver, bricht in Tränen aus und ahnt, „daß Siegen eine Qual bedeutet; daß er von jetzt an dazu verpflichtet ist, auf der eingeschlagenen Bahn fortzuschreiten, und daß ihm der Ausweg des Scheiterns nicht vergönnt sein wird.“ Wunderbar und von erschreckender Förmlichkeit das letzte Gespräch, zu dem Cosimos Vater den Jungen im 14. Kapitel aufsucht. Und als der alte, feige Geistliche Fauchelefleur, der Erzieher Cosimos und seines Bruders, aufgrund der ketzerischen Lektüren seines Schützlings verhaftet wird, „blickte (er) zu den Bäumen empor; einen Augenblick durchzuckte es ihn, als wollte er auf eine Ulme zulaufen und hinaufklettern, aber die Beine versagten ihm den Dienst.“ Die 276 Seiten des Romans wimmeln von solchen unerwarteten Details, mithilfe derer sich tragische Töne in Calvinos Heiterkeit mischen.
Wer sich
von einer langen, aber klaren Syntax und einer bisweilen barocken Sprache nicht abschrecken lässt, findet mit Der Baron in den Bäumen ein tiefsinniges Abenteuer, das nicht mit der Jugendzeit des Helden endet, sondern seinen Weg bis hin zu Alter und Sterben verfolgt.
-- A.D.
Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen (Taschenbuch)
Fischer Klassik
978-3596904419
9,99 Euro
Weitere Bücher des Autors:
Der geteilte Visconte -- eine Jekyll and Hyde-ähnliche Geschichte über einen Visconte, der in zwei Hälften zersplittert aus dem Krieg heimkehrt
Der Ritter, den es nicht gab -- über einen humorlosen, pedantischen und perfekten Ritter im Heer Karls des Großen mit dem einzigen Makel, dass es ihn nicht gibt
Wenn ein Reisender in einer Winternacht -- ein verschlungenes und schwindelerregendes Verwirrspiel über ein unauffindbares Buch, in dem der Leser zum Beteiligten wird
Die unsichtbaren Städte -- eine Reihe lyrischer Prosastücke, in denen Marco Polo dem Herrscher Kublai Khan von immer phantastischer erträumten Städten berichtet
Unser Autor Carl-Christian Elze hat es dieser Tage in die "Literarische Welt" - die äußerst lesenswerte Beilage der samstäglichen "Welt" - geschafft. Gisela Trahms schreibt hier über Pullover, Gottfried Benn, Tiere, holpernde Verse und zehnzeiliges Glück:
Ein Stern, der seinen Dichter trägt. Eine Begegnung mit dem Leipziger Dichter Carl-Christian Elze.
Bei uns erschien sein Gedichtband "gänge" in der Edition Wörtersee.
Das aktuelle Buch des Monats ist diesmal ein Titel aus dem
Jahre 2012, im Original erschien er bereits 1947, der Autor Gaito Gasdanow (1903-1971) war bis zum Erscheinen dieses Buches hierzulande praktisch unbekannt.
Unser Mitarbeiter und Autor Jörg Jacob, sonst nicht so leicht zu beeindrucken, ist begeistert:
Es gibt Geschichten, die man - einmal atemlos gelesen –
niemals wieder vergessen kann. Das Phantom des Alexander Wolf gehört für mich dazu. Der Roman erzählt von einer existenziellen Begegnung - einem
vermeintlichen Mord und seinen unabsehbaren Folgen, die das Leben des Erzählers von jenem unvergesslichen Augenblick an prägen werden. In klarer, unaufgeregter Prosa, die so schlicht wirkt und
doch so schwer zu schreiben ist, wird eine berührende und verstörende Geschichte aus der Tiefe des 20. Jahrhunderts, im
vibrierenden Spannungsfeld zwischen Tod und Liebe erzählt. Das Phantom des Alexander Wolf ist einer der großen Romane
der Weltliteratur, der noch entdeckt werden kann. Im Original erschien er zwar bereits 1947, in deutscher Sprache liegt er aber erst seit kurzem vor. In der Übersetzung von Rosemarie Tietze,
deren Übersetzung von Anna Karenina (erschienen 2009 bei Hanser) hochgelobt wurde.
Mittlerweile gibt es auch eine zweite Romanentdeckung des Autors, jüngst bei Carl Hanser
erschienen: Ein Abend bei Claire.
Gaito
Gasdanow
Das
Phantom des Alexander Wolf
Roman
schön
gebunden
Carl
Hanser Verlag
978-3-446-23853-4
17,90
Euro
(Die
Taschenbuchausgabe erscheint im September 2014 bei dtv für 9,99 Euro)
Gaiti
Gasdanow
Ein
Abend bei Claire
Roman,
192, Seiten
schön
gebunden
Carl
Hanser Verlag
978-3-446-24471-9
17,90
Euro
Es war ein kluger Schachzug vom DuMont Buchverlag, den neuen Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" des japanischen Autors Haruki Murakami direkt nach dem Weihnachtsgeschäft Anfang Januar auf den Markt zu bringen. Einen Monat vorher hätte der Titel mit dem "Der Analphabetin, die rechnen konnte" von Jonas Jonasson, den neuen Kurzgeschichten von Alice Munro oder Khaled Hosseinis "Traumsammler" noch äußerst verkaufsstarke Konkurrenz gehabt, so schlug er allerdings mit geballter Wucht ein - aus dem Stand Platz 1 der Bestsellerlisten, sich vor Lob überschlagende Kritiken in den großen Feuilletons und laut DuMont schon über eine Millionen ausgelieferte Exemplare. Auch bei uns ist der Roman seit Wochen auf Platz 1 der Verkaufslisten. Der vermittelte Eindruck: Ein Meisterwerk im Bestsellerformat des notorischen Nobelpreiskandidaten. Zeit für eine Prüfung.
Grandios ist zunächst einmal die gestalterische Aufmachung von "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki". Durchsichtiger Schutzumschlag mit bunten Farben in Form von Schmetterlingsflügeln auf weißem Karton - ein echter Hingucker!
Auch im Plot dreht es sich um Farbe und - man beachte den Titel - um Farblosigkeit. Tsukuru Tazaki ist Mitte Dreißig und hat ein Problem mit seiner Vergangenheit: Kurz nachdem er auf die Uni gegangen war, sagten sich seine vier besten und einzigen Freunde plötzlich von ihm los. Scheinbar ohne Grund wurde er aus der harmonischen und vollkommenen Gemeinschaft verbannt. 16 Jahre später wird Tazaki beim Sexualverkehr mit seiner neuen Freundin klar, wie sehr ihn die damaligen Ereignisse noch immer beschäftigen. Er geht der Sache auf den Grund und sucht nach und nach die Freunde von damals auf.
Die Rolle der Farben: Während die vier anderen jeweils eine Farbe im Namen tragen, ist Tsukuru Tazaki farblos - und farblos, ohne besondere Eigenschaften, fühlt er sich auch. Er ist mittelgroß, mittelklug, mittel-gutaussehend, Ingenieur mit Vorliebe für Bahnhöfe, hat ein kaum ausgeprägtes Sozialleben, schwimmt gerne und hört sich ab und zu das Stück "Le mal du pays" von Franz Liszt an.
Es ist vor allem die Versöhnung mit der Vergangenheit und die Erkenntnis, dass das Leben wie eine schwierige Partitur sei, die Tazaki während seiner Pilgerjahre findet. Und damit wird auch dem Leser gesagt: Das Leben ist rätselhaft, aber nimms nicht so schwer!
"Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" ist das erste Buch, das ich von Murakami gelesen habe. Keine Frage: ich hatte mir mehr erwartet. Der Plot entwickelt seinen Sog erst spät, die Sprache ist mit esoterischen Weisheiten gespickt, die Dialoge sind häufig banal konstruiert. Welchen Anteil daran die Übersetzung trägt, kann ich nicht beurteilen.
Fazit: Ein Bestseller - von DuMont sehr geschickt platziert -, der jedoch von einem Meisterwerk nach meinem Dafürhalten weit entfernt ist. Den nächsten Murakami werde ich lesen, wenn er der Literaturnobelpreis bekommen hat. S.
Haruki Murakami - Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Roman, 318 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
DuMont Buchverlag, Köln
22,99 Euro
Die Bestseller im Monat Februar:
1. Haruki Murakami: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" (Dumont, 22,99 Euro)
2. Gaito Gasdanow: "Ein Abend bei Claire" (Hanser, 17,90 Euro)
3. Franziska Wilhelm: "Meine Mutter schwebt im Weltall und Grossmutter zieht Furchen"
(Klett-Cotta, 18,95 Euro)
Das Buchhändlerdasein besteht entgegen weit- verbreiteter Ansichten leider nicht ausschließlich aus Tätigkeiten, bei denen man - auf ein gemüt- liches Lager gebettet - schöne Romane schmö- kert, während man vielleicht nebenher noch anderen Gelüsten (Schokolade, Gin, Kautabak) frönt. Nein, nein: Früh zum Beispiel wird erst einmal die Ware geprüft und ausgepackt, schließlich ist das blaue KNV-Auto meist schon im Morgengrauen dagewesen und hat seine Fracht abgeladen. Heute waren es u.a. 30 rotgewandete Saltobände von Wagenbach, die nachgeorderten Murakami von Dumont, Novitäten von DTV, Rowohlt und S. Fischer. Und ein Paket von Klett-Cotta mit dem schon erwarteten Debüt der Leipzigerin Franziska Wilhelm mit dem schönen Titel "Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen".
Franziska Wilhelm, die sich u.a. auch als Akteurin der Leipziger Lesebühne "Schkeuditzer Kreuz" einen Namen gemacht hat,
gehörte auch zu den Autoren unserer Anthologie "Kein Hügel für die wilden Pferde" und lies uns seither aufhorchen. Nun ihr rasantes Debüt, ein Roadmovie mit schrägem Humor, welches seinen Anfang
in der Sportplatzkneipe der Familie Enders nimmt, bei der sich Selbstmörder ihr letztes Bier zapfen lassen. Wirtstochter Milla hat das Leben in Strottenheim satt und nachdem ihr Onkel Jano, mit
dem sie eine engere Beziehung pflegt, die Flucht ergreift, begibt sie sich mittels eines Paketfahrers und Bullibesitzers auf die Suche nach ihm.
Ein charmantes Buch, dem wir viel Erfolg wünschen und welches bei uns gleich vorn auf dem Tisch liegt. Wer möchte kann auch einmal hier den hübschen Verlagsclip mit der Autorin anklicken.
Wilhelm, Franziska: Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen .
Roman. Gebunden, 200 Seiten
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-93992-7
18,95 Euro
Eine Predigt wikt oft erschlagend, eine Predigt auf einen Untergang erst recht, würde man meinen. Kommt dann noch Rom ins Spiel, wird es existentiell. Und genau so ist es: Der Franzose Jérôme Ferrari hat mit seinem Roman "Predigt auf den Untergang Roms" ein erschlagendes Buch geschrieben, ein erschlagend gutes Buch.
Es fängt an mit der Kontemplation eines alten Herren, Marcel Antonetti, über einer Fotografie seiner Familie aus dem Jahr 1918. Er versucht in ihr das Rätsel der Abwesenheit zu entschlüsseln. Abwesend ist er selbst, ein ungeborenes Kind. Und so wird er sich zeitlebens fühlen: abwesend im Lauf der Geschichte, beseelt von einem immerwährenden Tatendrang, den er auszuleben nie die Möglichkeit sehen wird. Verbittert und einsam, im Schaukelstuhl sitzend, blickt Marcel auf das 20. Jahrhundert zurück.
Der Roman erzählt die Geschichte dreier Generationen. Marcels Sohn und seine Nichte werden sich in inzestuöser Liebe vereinigen, daraus wird Matthieu entstehen, ein weiterer unglücklich entwurzelter Mensch. Während sich seine Schwester Aurélie irdischen Problemen - als Archäologin auf den Spuren Augustinus' in Algerien - widmet, bleibt der Philosophie-Student Matthieu der Welt entrückt und doch voller Sehnsucht nach der "Besten aller möglichen Welten" (Leibniz). Diese meint er zu finden, als plötzlich die Dorfkneipe seines korsischen Heimatörtchens zur Pacht frei wird. Matthieu und sein Jugendfreund Libero machen sich auf in ihre alte Heimat, um die Bar zu übernehmen und die Philosophie an den Nagel zu hängen. Und tatsächlich entwickelt sich alles erstmal gut: Hübsche Kellnerinnen sorgen mit unorthodoxen Methoden für regen Betrieb, die Bar wird zum Dorfmittelpunkt, der Rubel rollt und Matthieu, wie ein Kind an den Leibern seiner Kellnerinnen klebend, fühlt sich plötzlich ganz groß.
Wäre da nur nicht dieser Augustinus. "Predigt auf den Untergang Roms" ist eine Verfallsgeschichte und dem Leser wird schnell klar, dass alles den Bach runter gehen wird. Und so lässt Augustinus weise von oben ausrichten: Denn Gott hat für dich nur eine verderbliche Welt geschaffen. Durch den gesamten Roman zieht sich diese augustinische Weltauffassung: Nichts ist ewig, alles wird untergehen, nimm es hin, beschwere dich nicht und mach dich nicht lächerlich. - Matthieu und Libero glauben naiv an die "Beste aller möglichen Welten" und das wird ihnen zum Verhängnis.
Existentiell wird Ferraris Roman, wenn er mit souveräner Hand durch die Weltgeschichte wandert: Von Augustinus und dem tatsächlichen Untergang Roms über die koloniale Vergangenheit Frankreichs und die beiden Weltkriege mitten hinein in die korsische Dorfkneipe, die als Mikrokosmos für den erbarmungslosen Lauf der Geschichte und für den unabwendbaren Verfall aller Materie dient.
Wie eine Predigt ist auch Ferraris Sprache: Mit langen und kunstvollen Satzkonstruktionen, fast ohne Absätze und Dialoge und doch mit einem rasanten Handlungsfluss, lässt der Franzose eine Sogwirkung entstehen, die den Leser bannt und - wäre der Raum mit Weihrauch durchtränkt - bestimmt in Trance versetzen würde. Natürlich kommt ein solcher Roman nicht ohne Pathos aus, doch driftet Ferrari nie ins Kitschige ab.
"Predigt auf den Untergang Roms" wurde im vergangenen Jahr mit dem renommiertesten französischen Buchpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Es ist gut, dass er im Frühjahr in der ausgezeichneten Übersetzung von Christian Ruzicska beim feinen Secession Verlag erschienen ist. Chapaeu! S.
Jérôme Ferrari
Predigt auf den Untergang Roms
Le Sermon sur la chute de Rome (Actes Sud, Arles)
aus dem Französischen von Christian Ruzicska
208 Seiten, schön gebunden
Secession Verlag für Literatur, Zürich
19,95 Euro
Wir freuen uns heute sehr über einen Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Andreas Platthaus widmet im Feuilleton Clemens Meyers / Phillip Jantas "Rückkehr in die Nacht" fast eine halbe Seite und erzählt auch von der Vorgeschichte des Buches, welches in Meyers Schreibnächten parallel zu seinem Roman "Im Stein" entstanden ist und vom Leipziger Illustrator Phillip Janta bebildert wurde - "meisterlich. Wie das ganze kleine querformatige wunderschöne Buch." Dankeschön!
Selten schlagen Debütromane mit solcher Wucht ein wie „Die Kunst des Feldspiels“ von Chad Harbach. Der US-Amerikaner hat mit seinem Buch über Baseball, Liebe, Erfolg und Scheitern einen intelligent-leichten, distanziert-teilnehmenden, klug strukturierten und vor allem einen überaus liebenswürdigen Roman geschrieben. 2011 erschien der Text in den USA und erhielt Lob von den gestandenen Romanciers John Irving und Jonathan Franzen, seit August dieses Jahres ist nun das deutschsprachige Taschenbuch auf dem Markt.
Wer sich noch nie mit Baseball beschäftigt hat, dem sei vor der Lektüre ein Blick in die Wikipedia geraten – doch: keine Angst, in „Die Kunst des Feldspiels“ spielt Baseball zwar vordergründig die Hauptrolle, steht aber immer als Metapher auf das Zweifeln über den Erfolg und den Ehrgeiz im Raum:
„Auf seine leise Art war Baseball ein Sport maßlosen Grauens. Bei Football, Basketball, Hockey oder Lacrosse stürzte man sich ins Gewühl. Doch beim Baseball war es anders – kein durchgehendes Handgemenge, sondern eine Abfolge einzelner Wettkämpfe. Schlagmann gegen Pitcher, Feldspieler gegen Ball. Man stand da und wartete und versuchte, innerlich ruhig zu bleiben. Wenn der Moment gekommen war, musste man bereit sein, denn verbockte man es, wusste jeder, wessen Fehler es gewesen war.“
Ein solcher Fehler unterläuft Henry Skrimshander, dem talentiertesten Shortstop-Spieler des ganzen Landes, in einem College-Match. Bisher hatte er immer fehlerfrei geworfen, doch dieses Mal driftet der Ball merkwürdigerweise in der Luft ab und trifft seinen Mitspieler am Kopf – Henrys Rekordserie ist zu Ende, das Grübeln über das Scheitern beginnt. Henry verkrampft, produziert Fehler auf Fehler, rutscht zuerst aus dem Team und dann in eine Depression.
Den Druck, Erfolg und Leistung erbringen zu müssen, haben auch Mike, Henrys Mitspieler und Förderer, eine übermächtige Bruder-Figur, der smarte und schwule Owen, der sich auf eine Beziehung mit dem 60-Jährigen College-Präsidenten und Melville-Bewunderer Affenlight einlässt. Dessen Tochter Pella kehrt nach einer verkorksten Ehe zu ihrem Vater zurück, fest entschlossen, ihrem Leben eine neue, erfolgreichere Gangart zu geben. Alle sind involviert in Henrys Kampf gegen das Scheitern, sie haben ähnliche Probleme auf anderen Terrains, aber die Baseball-Metapher dient allen Thematiken als Schablone.
Chad Harbach zeichnet in seinem Roman das Bild einer amerikanischen Leistungsgesellschaft, in der das Prinzip „self-made“ dominiert, jeder selbst für sein Leben, für seinen Erfolg und sein Scheitern verantwortlich ist. Trotzdem präsentiert Harbach diese liberal-kapitalistische Gesellschaft in „Die Kunst des Feldspiels“ auf eine warme, menschliche und freundliche Art. Freundschaft, Liebe und Sport, so die Botschaft, helfen das Grübeln am Erfolg, die Angst vor dem Scheitern und den immensen Druck, Leistung erbringen zu müssen, zu besiegen. Und mit dem Sieg, dem Triumph über allzu menschliche Fehler, bekommt auch der amerikanische Traum ein neues Antlitz, eine höchst reale, irgendwie machbare Gestalt. S.
Chad Harbach
Die Kunst des Feldspiels. Roman
Taschenbuch, 605 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-6252-8
Kathrin Aehnlich, 1957 in Leipzig geboren, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, "Alle sterben auch die Löffelstöre" war bislang ihr bekanntester Titel. Nun "Wenn die Wale an Land
gehen", ein leichtes, unterhaltsames und dennoch nachdenklich machendes Buch: Roswitha studiert im Leipzig der 80er Jahre, mit ihrer Clique lotet sie Freiräume und Grenzen des realexistierenden
Sozialismus aus und weiß zu jeder Situation einen passenden Rocksong. Musik spielt eine große Rolle, verspricht Rettung in jeglicher Situation und kündet mittels Plattenspieler von Freiheit. Im
Mittelpunkt des Geschehens steht auch Mick, eine Art früher Hipster und Roswithas bester Freund: "Er trug nicht Jeans wie alle anderen, sondern blaue Stoffhosen mit Bügelfalte, die er
"Busfahrerhosen" nannte, dazu graue Feinrippunterhemden "halber Arm" und darüber die zu große "Präsent-20"-Jacke seines Vaters, an deren Revers eine Mainelke vom "VEB Kunstblume" steckte." Mick
stiftet seine Freunde zu skurillen Rockopern an, dreht mit ihnen Super-8-Filme und träumt von Amerika. Doch nach dem Studium werden die Freunde in einen sozialistischen Alltag geworfen, den sie
so nie leben wollten. Und dann gibt es auch noch die "Handwerker", wie hier ironisch die Genossen der Staatssicherheit genannt werden. Einige der Freunde kämpfen dagegen an, einige geben auf oder
fügen sich, einige scheitern. Und Etta James singt "Something told me the game is over...".
Mick verschwindet, wie so viele damals gen Westen und folgt seinem Traum nach New York. Roswitha begibt sich Jahrzehnte später auf die Suche nach ihm...
Kathrin Aehnlich erzählt mit viel Atmosphäre und Ironie vom Leben in der späten DDR, von einem dem Untergang geweihten Land, in dem man als hier geborener Zwanzigjähriger oft nicht wußte, wie man
ihm begegnen sollte, denn man kannte nichts anderes als als diese Realität und die Träume und die Sehnsucht nach einem anderen Leben. "Wenn die Wale an Land gehen" ist ein Glücksfall und
unbedingt zu empfehlen! P.
Kathrin Aehnlich
Wenn die Wale an Land gehen. Roman
schön gebunden, mit Schutzumschlag, 250 Seiten
Antje Kunstmann verlag
978-3-88897-859-3