Klassiker wiederentdecken - Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae

In Nabokovs Roman Pnin über einen in die USA ausgewanderten russischen Gelehrten, macht sich der Erzähler über den Protagonisten lustig und der Leser lacht mit ihm. Doch von Kapitel zu Kapitel gewinnt Timofey Pnin an Profil und zieht den Leser auf seine Seite, ohne dass der Erzähler etwas dagegen ausrichten kann. Eine vergleichbare Verschiebung findet in Robert Louis Stevensons Roman Der Master von Ballantrae (in früheren Übersetzungen auch Der Junker von Ballantrae) aus dem Jahr 1889 statt.  Stevenson ist vor allem für den Piratenroman Die Schatzinsel und die vielfach verfilmte Erzählung Dr. Jekyll und Mr. Hyde bekannt. Der Master von Ballantrae ist eines seiner weniger bekannten Bücher, das nun in neuer Übersetzung und liebevoller Gestaltung vorliegt. Der Roman erzählt die Geschichte zweier Brüder, Henry und James Durie, die Erben des alten Lord Durrisdeer. James muss in den Krieg ziehen und fällt. Henry hat die Last des Überlebenden zu tragen und sieht sich gezwungen, James’ Verlobte, die den Verstorbenen nach wie vor verehrt, zu ehelichen und ein Kind mit ihr zu zeugen. In dieser unkomfortablen Situation richten sich die Bewohner des Schlosses Ballantrae ein, als sie die Nachricht erhalten, dass James am Leben ist. In der Folge stellt der Todgeglaubte das Leben seines Vaters, seines Bruders und dessen Ehefrau auf den Kopf, indem er skrupellos die Liebe des Vaters und der Frau und das Pflichtgefühl des Bruders ausnutzt und das schmelzende Vermögen der Familie verschleudert.

Auf den ersten Blick erscheint also eindeutig, wer in dieser Mischung aus Abenteuerroman und Adeligendrama die Rolle des Guten und des Bösen gibt. Wie viele Erzählungen Stevensons lässt sich der Text auf dieser oberflächlichen Ebene genießen und als unterhaltsamer Roman lesen. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto stärker zweifelt der Leser an den Wertungen, die der Erzähler trifft. Dieser Erzähler heißt Ephraim Mackellar und steht als Verwalter des Guts Durrisdeer auf der Seite Henrys. Erscheint seine Abneigung gegen den Bruder James in der ersten Hälfte durch die Handlung gerechtfertigt, kippt dieser Eindruck – wie in Nabokovs Pnin – je mehr Zeit der Leser mit den Charakteren verbringt. Bei einem Duell tötet Henry James scheinbar erneut; während der späteren Schiffsreise versucht Mackellar, James über die Reling in die stürmische See zu stürzen, doch der Junker erscheint unsterblich. Die Handlungen James’ tragen ihm nach wie vor keine Zuneigung ein; vielmehr gelingt es ihm, dass seine Feinde Henry und Mackellar noch verworfener handeln als er selbst – nicht umsonst sagte Stevenson über seinen Antihelden James Durie: „Er ist alles, was ich vom Teufel weiß.“

Der Roman bietet dem Leser mindestens drei Lesarten: Erstens die abenteuerliche Geschichte James Duries auf seinen Reisen (bei denen er neben anderem einen Schatz anhäuft, den es am Ende zu suchen gilt). Zweitens die Geschichte eines von Hass und Eifersucht geprägten Bruderzwistes, der sich unaufhörlich steigert. Und drittens die Geschichte des redlichen Henry der sich vom Teufel in Gestalt seines Bruders zu einer schmerzhaften Bösartigkeit zermürben lässt. Diese Lesarten – und das ist vielleicht Stevensons größte Kunst – wirken nicht nebeneinander gestellt, sondern scheinen einander zu bedingen. A.D.

Der Mare Verlag bringt Der Master von Ballantrae in neuer Übersetzung mit ausführlichen Anmerkungen in einem schmuckvollen Leinenband.

Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae. Eine Wintergeschichte, Herausgegeben und übersetzt von Melanie Walz, 352 Seiten, 978-3-86648-120-6, 29,90 Euro                                 

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